Silben Touren und Strophen

 

Der Gesang des Kanarienvogels besteht nicht aus einer willkürlichen oder zufällig zusammenhängenden Aneinanderreihung von Tönen, wie wir nach dem akustischen Eindruck meinen könnten. Er ist vielmehr wohlstrukturiert und besteht aus sauber getrennten einzelnen Tönen, ähnlich wie ein menschliches Musikstück  mit festen Themen und Spielraum für Improvisation. Dies gilt nicht nur für den Kanarienvogel, sondern allgemein für die Singvögel. Der Zaunkönig z. B. singt 19 Noten pro Sekunde. Für uns sind diese nicht mehr getrennt hörbar, sondern erscheinen uns als zusammenhängendes Gezwitscher, das Zaunkönigsweibchen genießt aber jeden einzelnen Ton der zauberhaften Melodie seines Männchens.

Der Kanarienvogel kann auf ein Repertoire von 30 bis 40 verschiedene Noten, besser gesag Lauttypen zurückgreifen, die man als Silben bezeichnet. Dies sind die Grundbausteine seiner Sprache.

 

Typisch für den Kanarienvogel ist, dass er die Silben gleichförmig wiederholt, bevor er zur nächsten Lautgruppe wechselt, er „stottert“ sozusagen.

Diese wiederholten Silben bezeichnet man als Touren.

Aus verschiedenen Touren baut der Vogel sich schließlich seine Strophen auf. Hierbei erweist sich der Kanarienvogel als Meister im Improvisieren. Die Touren sind mal kürzer, mal länger, ihre Reihenfolge wird variiert, das eine oder andere Element mal weggelassen, mal hinzugefügt. Dadurch gleicht keine Strophe exakt der vorhergehenden.

Der Umfang des dem Vogel zur Verfügung stehenden Repertoires ist von Individuum zu Individuum recht verschieden. Es gibt also begabte und weniger begabte Sänger.

Neben den verschiedenen Silbentypen ist auch die zeitliche Struktur des Gesangsaufbaus von Bedeutung. Der Vollgesang des Kanarienvogels ist nicht nur durch sein stabiles Lautrepertoire gekennzeichnet, sondern auch durch die feste zeitliche Organisation. Dies bedeutet, dass die Dauer der Pausen zwischen den Touren einer Strophe wenig variiert. Die Spannweite der Pausendauern reicht zwar von 0,02 bis etwa 0,7 Sekunden, mehr als die Hälfte davon liegen aber im Bereich von 0,08-0,16 Sekunden. Die Tourendauer erwachsener Männchen liegt meist zwischen 0,8 bis 1,1 Sekunden, kann aber auch mehr als 2 Sekunden betragen.

 

„Subsong“

 

Der junge Kanarienvogel  braucht 30 bis 40 Lebenstage bis er sich zum erstenmal ernsthaft mit dem Gesangsstudium beschäftigt. Bis kurz vor der Jugendmauser  durchläuft er die erste Phase des Gesangslernens, die man in Ermangelung eines deutschen Ausdrucks  als „Subsong“ bezeichnet.  Man kann sie durchaus mit dem menschlichen Sprechen lernen vergleichen. Der Vogel verfügt erst über sehr wenige Silben. Diese sind dafür variabel (amorphe Laute) , d. h. jede Silbe ist in Tonhöhe und Form etwas anders als die vorherige, es gibt noch keine feste zeitliche Struktur, und der Vogel ist noch nicht in der Lage, Silben gleichförmig zu wiederholen, d. h. Touren zu bilden. Dieser Gesang ist außerdem sehr leise.

 

Plastischer Gesang

 

Vor Beginn der Jugendmauser ist der Vogel etwa zwei Wochen lang still. Etwa zwischen dem 70. und 90. Lebenstag beginnt die zweite Lernphase, die man den „plastischen Gesang“ nennt. Diese Phase dauert in etwa bis zu seinem 150. Lebenstag, bis dahin hat er sein Repertoire zwar verbessert, die Form der einzelnen Silben ist aber immer noch recht variabel. Er ist schon in der Lage, erste Silben in tourenähnlicher Form zum Besten zu geben. Die zeitliche Organisation ist aber noch sehr verbesserungsbedürftig.

 

Juveniler Herbstgesang

 

Der Vogel erlebt dann seine Jugendmauser, und anschließend beginnt die dritte Phase seiner Gesangsausbildung, der juvenile (= jugendliche) Herbstgesang. Er dauert bis zum 250. Lebenstag. Jetzt kann man zum ersten Mal das Talent des Vogels erkennen und sein Lautrepertoire  abschätzen, das bis zu 50 verschiedene Silben enthalten kann Die Pausenverteilung entspricht jetzt derjenigen, die ein erwachsener Vogel im Herbst vorführt.

 

Vollgesang

 

Im nächsten Jahr im Januar oder Februar, um den 300. Lebenstag herum, beginnt die Fortpflanzungszeit. Jetzt erst hat der Vogel seine Lehre beendet und den Vollgesang erreicht. Das Lautrepertoire ist nun stabil und umfasst in der Regel 30 - 40 Elemente, die schön regelmäßig vorgeführt werden.

Ein Teil des Gesangs ist beim Kanarienvogel angeboren, daneben gibt es aber auch individuelles Lernen. Das Gesangsschema, die Strophe mit bestimmten Tönen und Rhythmus ist genetisch fixiert. Die Feinstrukturen sind dagegen für Lernprozesse offen, und der Vogel sammelt durch Hören arteigenen Gesangs an Erfahrung. So entwickelt sich die bekannte Schlußphrase  (Phrase: selbständiger Abschnitts eines Musikstücks) des Buchfinken nur im Kontakt mit erfahrenen Vorsänger. Sehr wichtig für das ganze Gesangslernens  des Kanarienvogels ist das Vorbild des Vaters. Die Jungen lernen aber auch von anderen Männchen und von gleichaltrigen Jungvögeln. Die Silben unterscheiden sich nämlich in den Feinstrukturen, und diese sind es, die den Klangcharakter bestimmen und die von Artgenossen kopiert werden, ähnlich verhält es sich mit unseren Dialekten. Manche Feinstrukturen werden daneben auch ohne erkennbare Vorbilder gebildet, der Vogel kann also auch improvisieren.

Das bisher Ausgeführte gilt nur für die Männchen.

Die Weibchen singen nicht häufig in ihrem ersten Lebensjahr, allerdings ist die frühere Behauptung falsch, dass sie gar nicht singen könnten. Mit der Qualität dieses Gesangs ist es allerdings nicht weit her,  Er ist mit dem „subsong“ der Männchen vergleichbar, bestenfalls erreicht er die Qualität des frühen plastischen Gesangs.

 

Im Laufe der Jahre

 

Das Männchen führt uns schon vor Beginn seiner Fortpflanzungszeit  im Frühjahr seinen vollendeten Vollgesang vor. Diesen behält er während der ganzen Brutsaison bei.

 

Herbstgesang

 

Nachdem seine erste Fortpflanzungszeit vorüber ist, beginnt für unseren Sänger die Refraktärzeit (refraktär: unempfänglich), er singt immer weniger und stellt seinen Gesang schließlich ganz ein.

Nach dem jährlichen Wechsel des Gefieders, der Mauser, singt er ein anderes Lied, den Herbstgesang. Dieser ist weit plastischer als der Vollgesang, d. h. ohne feste zeitliche Struktur, und auch die einzelnen Elemente sind viel variabler. Die Pausen sind unterschiedlich lang, und das Verhältnis von tourigen Elementen zu Einzelelementen ist stark zugunsten letztere verschoben.

Im nächsten Winter und im zeitigen Frühjahr beginnt der Gesang sich dann wieder zu stabilisieren, bis er in der nächsten Fortpflanzungsperiode  wieder Vollgesangsniveau erreicht.

 

Ein neues Lied

 

Das Interessant ist nun, dass sich sein Gesang gegenüber dem Vorjahr geändert hat. Einige Silben sind gleich geblieben, andere hat er aber offenbar während der Ruhephase vergessen. Dafür hören wir nun zu unserer Überraschung   Melodien, die er neu „erfunden“ hat. Dies bedeutet, dass auch der erwachsene Kanarienvogel seinen Gesang noch ändern kann, wie übrigens auch einige andere Finkenvögel. Sie werden deshalb als „altersunabhängige Lerner“ bezeichnet.

 

Wie wir gesehen haben, ist der Kanarienvogel in der Lage, sein Leben lang zu lernen. Auch als erwachsener Vogel kann er noch neue Gesangselemente entwickeln und in sein Repertoire aufnehmen, andere dagegen verlernt er wieder und so ändert sich sein Liederbuch von Jahr zu Jahr.

 

Beim Kanarienvogel dauert es etwa ein Jahr, bis er erwachsen ist und zum erstenmal erfolgreich Junge aufziehen kann. Damit er nicht schon vorher, angeregt durch die langen Tage des Spätsommers, mit dem Brüten beginnt, wird seine Geschlechtsentwicklung in einem frühen Stadium angehalten. Diese Refraktärperiode dauert bis zum Herbst, verantwortlich dafür ist die Hypophyse, deren Gonadotropinausschüttung blockiert wird. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die Jungen nicht zu einer ungünstigen Zeit, nämlich im Winter, schlüpfen. Bei ihm sowie bei allen saisonal brütenden Vögeln in unseren gemäßigten Breiten ist für einen Bruterfolg die exakte Synchronisation

(= in zeitliche Übereinstimmung bringen) von optimalem Nahrungsangebot und Bruttermin erforderlich.

 

Wenn im Frühjahr die Tage länger werden, stimuliert die Hypophyse das Gonadenwachstum und dort die Steroidproduktion. Die weitere Synchronisation zur Aufrechterhaltung der Brutmotivation erfolgt durch Balz und Gesang des Männchens und durch das fertiggestellte Nest. Gelege und Nest lösen schließlich  das Elternverhalten aus, zuerst das konstante Bebrüten durch das Weibchen, später das gemeinsame Füttern.

 

Doping

 

Die Gesangsentwicklung  bei jungen Männchen kann durch die Verabreichung von Testosteron  in früher Jugend, ab dem 60. Lebenstag  erheblich beschleunigt werden.

Der Kanarienvogel ist in dieser zeit noch in normalerweise noch in der „Subsong“ - Phase  und braucht noch rund acht Monate, bis er Vollgesangsniveau erreicht. Mit Testosteron geht das alles innerhalb einer bis weniger Wochen, also bis zum 80. bis 100. Lebenstag! Das Lautrepertoire dieser Vögel umfasst 20 - 30 verschiedene Silbentypen, ist also durchaus mit dem erwachsenen Männchen im Vollgesang vergleichbar. Es ist zudem stabil, der Anteil touriger Elemente hoch.

Bei weiteren versuchen wurden Kanarienvögel noch früher (ab dem 40. Lebenstag) behandelt. Sie erreichten nach 20 tagen nur eine Gesangsqualität, die dem juvenilen Herbstgesang entspricht. Die erreichbare Gesangsqualität ist also vom Zeitpunkt der Behandlung abhängig.

 

Obwohl das Gesangssystem zu Beginn der Hormonbehandlung (60. Tag) noch nicht völlig ausgeformt ist, sind die Vögel offenbar schon in der Lage, zu lernen. Dies bedeutet, dass sie das Vorbild eines Tutors, in der Regel des Vaters, als „Muster“ speichern können. Eine Myelinisierung der Gesangszentren ist für die Gedächtnisbildung nicht nötig. Durch Testosteron kommt es zur Aktivierung des Gedächtnisses, und die Vögel produzieren die Lautmuster, die sie dort gespeichert hatten, die also nur noch abgerufen werden. Die Programme sind wohl schon weitgehend ausdifferenziert, und eine längere Übungsphase ist nicht nötig.

 

Auch Kanarienweibchen singen

 

Man konnte mittlerweile beobachten, dass Kanarienweibchen zu bestimmten Zeiten durchaus zu Lautäußerungen in der Lage sind. Während der Brutzeit singen sie nur ausnahmsweise. Nach Beendigung ihrer Brut und aller Pflichten entbunden, etwa ab Juli, singen sie aber spontan den Sommergesang. Gleichzeitig findet man im Juli das Maximum an Testosteron im Blut. Vermutlich löst das Testosteron  beim Weibchen den Gesang aus.  Im Herbst singt es den etwas plastischeren Herbstgesang, der bis zum Februar, also bis zum Beginn der nächsten Brutsaison, dauern kann. Den meisten Gesang produziert das Weibchen im Oktober. Im Frühjahr fällt der Testosteronspiegel wieder stark ab, und das Weibchen stellt seinen Gesang daraufhin ein.

Mit Testosteron Behandlung können Weibchen so gut singen wie Männchen, mit einem Repertoireumfang von 25 - 50 Elementen, ähnlicher Pausenverteilung und ähnlicher Tourendauer. Damit ist klar, dass sich Männchen und Weibchen von ihren körperlichen Anlagen her nicht unterscheiden. Die Weibchen können durchaus singen, die Hormone hindern sie aber daran. Schon fünf Tage nach der Testosteronbehandlung stellen die Weibchen das Brüten völlig ein. Sie zeigen keinerlei Interesse mehr an ihrem Gelege, renovieren das Nest auch nicht mehr, wie sonst üblich. Schließlich fangen sie an andere Weibchen anzubalzen, das komplette verhalten wird also vermännlicht.

Werden Weibchen zur Zeit des Herbstgesangs behandelt, zeigen sie plötzlich eine enorm gesteigerte Aggressivität und auch ihr Gesang ändert sich merklich. Normalerweise ist der Herbstgesang sehr variabel, mit ca. 40 Elementen. Durch Testosteron wird das Repertoire innerhalb 30 Tagen fast halbiert, und es treten neue Elemente auf. Die Touren werden länger, insgesamt wird der typische Weibchengesang dem der Männchen ähnlich.